Samstag, 29. Juli 2017

Botteghe oscure


















Heute vor exakt sechzig Jahren, einen Tag nachdem in
Cosio d’Arroscia die Situationistische Internationale (SI)
gegründet wurde, begann Paul Celan seine Übersetzung
von Rimbauds Bateau ivre. Am 1. August 1957 wird er an
Christoph Graf Schwerin schreiben: „Denken Sie: ich ha-
be das ,Bateau Ivre‘ übersetzt! In drei Tagen und es war
ein ganz merkwürdiger Zustand.“  

Montag, 17. Juli 2017

Anno mirabile


















Als vorgestern Robert Stockhammers jüngst bei Fink er-
schienenes 1967. Pop, Grammatologie und Politik in der
Post war, galt mein erster Blick dem Personen-, Gruppen-
und Markennamenregister. Etwas enttäuscht musste ich
zur Kenntnis nehmen, dass Kolle, Oswalt auf Kluge, Alex-
ander folgte. Denn im Sommer 1967 sprachen im Audimax
der FU Berlin nicht nur Adorno über den Klassizismus von
Goethes Iphigenie und Marcuse über das Ende der Utopie,
sondern auch Alexandre Kojève. Sein Vortrag trug den Ti-
tel Was ist Dialektik? und begann wie folgt: „Vor einiger
Zeit war es große Mode über Dialektik zu sprechen; heut-
zutage spricht man lieber über Strukturen.“

Im fonds Kojève, der in der BnF aufbewahrt wird, befindet
sich ein Brief, den Traugott König — seinerzeit Jacob Tau-
bes’ Assistent — am 16.VI.1967 an den französischen Minis-
terialbeamten geschrieben hatte. Es ging um dessen anste-
henden Besuch in Westberlin. König bestätigte, dass er „ein
Hotelzimmer mit Bad im Berliner Hof, einem sehr guten
Hotel in Grunewaldreserviert habe: Herr Taubes läßt noch
fragen, ob Sie wohl Ihr Manuskript der Geschichte der Philo-
sophie (Antike) mitbringen könnten, weil die Fotocopie, die
schon einmal gemacht wurde, nicht gelungen ist.“ Im folgen-
den, letzten Absatz des Briefes ging König auch auf die Berli-
ner Ereignisse von Anfang Juni ein.

Die Universität in Berlin ist im Aufruhr, seit die Berliner Po-
lizei bei den Demonstrationen gegen den Schah viele Studen-
ten mißhandelt und einen erschossen hat. Ich schicke Ihnen
zwei Berichte darüber, damit Sie wissen, in welche Situation
Sie in Berlin hineinsprechen werden.

Montag, 3. Juli 2017

Superjubiläumsjahr


















Am 15. Juli jährt sich Benjamins Geburtstag zum 125sten,
anderthalb Monate später, am 31. August, Baudelaires To-
destag zum 150sten Mal. Das Buch der Stunde ist, vor fast
fünf Jahren, bei Neri Pozza erschienen: Walter Benjamin,
Charles Baudelaire. Un poeta lirico nell’età del capitalis-
mo avanzato, herausgegeben von Giorgio Agamben, Barba-
ra Chitussi und Clemens-Carl Härle. Wer des Italienischen
nicht mächtig ist, kann die französische Übersetzung von
Patrick Charbonneau konsultieren, die ein Jahr später im
Pariser Verlag La fabrique erschienen ist. Dass dieser Ben-
jamin’sche Baudelaire nichts mit den von Rolf Tiedemann
unter demselben Titel („Ein Lyriker im Zeitalter des Hoch-
kapitalismus“) 1969 bei Suhrkamp herausgegebenen „zwei
Fragmenten“ zu tun hat, lässt schon der schiere Umfang
erahnen: Während Tiedemanns „Fragmente“ auf 200 Sei-
ten kommen, sind es bei Neri Pozza knapp 1000. 

Aufschluss gibt ein offener Brief Agambens an Giulio Ei-
naudi und dessen Replik, die November 1996 in Repubbli-
ca, der maßgeblichen Zeitung Italiens, erschienen und in
deren Onlinearchiv noch immer abzurufen sind. Aus ihnen 
geht hervor, dass Rolf Tiedemann die Übernahme des Ei-
naudi-Verlags durch Berluscolnis Verlagsgruppe Mondadori
genutzt hat, um Agamben als Herausgeber der italienischen
Benjamin-Ausgabe wegzuputschen. Er konnte es Agamben
nicht verzeihen, dass er verloren geglaubte Manuskripte in
der BNF aufgetrieben hatte. Ohne Tiedemanns Kollaboration
mit Berlusconi wäre es undenkbar, dass zum 125. Geburtstag 
Benjamins lediglich Swastika-Spezialist Lorenz Jäger ein Buch
zum Jubiläum vorlegt. Über Agambens, Chitussis und Härles
Vorschlag verliert das deutsche Feuillleton kein Wort. Was es
gibt: antideutsches“ Agamben-Bashing

AUCH DIE TOTEN WERDEN VOR DEM FEIND, WENN ER SIEGT,
NICHT SICHER SEIN.