Freitag, 24. Januar 2014

Slow emotion


















Als die Snowden-Affäre noch im Zentrum öffentlicher Auf-
merksamkeit stand, bat der Spiegel Prominente um eine
Stellungnahme. Sloterdijks Kommentar war nur online zu
lesen. Ein Auszug:

Niemand hätte stärkere Gründe für einen charaktervollen
Einspruch als eine deutsche Regierungschefin, die selbst
jahrelang Opfer einer durch nichts zu rechtfertigenden
Abhörungs-Attacke war. Die einzige Form des Einspruchs
jedoch, der die US-Administration wirklich beeindrucken
würde, wäre die Gewährung eines befristeten Asyls für den
Informanten, dem die deutsche Regierung ihre Aufklärung
über die erlittenen Infamien verdankt.

Dass nichts dergleichen geschehen wird, liegt auf der Hand.
Die Charakterlosigkeit der deutschen Haltung in der Affaire
Snowden ist doppelt garantiert: zum einen durch die Merkel-
sche Grundhaltung, Konflikte aller Art durch listiges Ignorie-
ren zu verkleinern; zum anderen durch die auch bei uns voll-
zogene vorauseilende Einstimmung in die globale Korruption
ziviler Werte durch militärische Sondergesetze: Im Namen der
dämonisch verabsolutierten SICHERHEIT soll ja künftig überall
der permanente Ausnahmezustand durchgesetzt werden — das
läuft auf die post-demokratische Maßnahmen-Regierung hinaus.

Aceleração brasileira


















O aceleracionismo brasileiro impulsiona rumo um futuro
que é mais moderno, uma modernidade alternativa que
o neoliberalismo é incapaz de gerar intrinsecamente.

 

Accelerate!


















Wenn man doch auf dem rennenden Pferde,
schief in der Luft,
immer wieder kurz erzitterte über dem zitternden Boden,


















bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen,
bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel,


















und kaum das Land vor sich als glattgemähte Heide sah,
schon ohne Pferdehals und Pferdekopf.


Dienstag, 14. Januar 2014

Integrale Aktualität


















Vor paar Monaten stand in der Welt, Goetz würde wieder
bloggen. Der Suhrkamp Verlag habe einen Blog mit dem
tollen Namen „Logbuch“ eingerichtet, für den jetzt alle
noch lebenden Autoren in unregelmäßigen Abständen
Beiträge liefern würden. Von Goetz war damals nichts
zu finden. Kürzlich kam mir diese Meldung wieder in den
Sinn. Ich habe gleich nachgeschaut, ob sich Goetz mittler-
weile mal zu Wort gemeldet hat. Tatsächlich gibt es jetzt
einen Eintrag, eine Liste, immerhin: die YouTube-Playlist
der „Videos von und mit Rainald Goetz zu seinem Roman
Johann Holtrop, z. T. vom Autor selbst aufgenommen.“

2012 — ein Jahr des Drachens: das erste Video ist von An-
fang Mai: „mehr“, ein Auftritt mit Diederichsen in der HU,
dann eine Woche später die Antrittsvorlesung in der FU;
Anfang August die Leseexemplarpräsentation im Verlag, es
folgt die Lesung zur Longlist des deutschen Buchpreises; im
September Goetz’ Reaktion auf die Shortlist: „gefeuert“,
die Buchpremiere im Deutschen Theater Berlin und das Vi-
deo „theater, it’s over“. Das Jahr klingt aus mit der Buch-
messe: am Zeit-Stand mit Mangold, die Paschen-Lesung mit
Stephan Lohr. Fehlt da nicht was? Genau: „Folgende Videos
konnten leider nicht in die Playlist eingebunden werden:
Kulturzeit mit Andrea Maurer — in der ZDF-Mediathek auf-
rufbar […] und Das blaue Sofa mit Wolfgang Herles — leider
nicht mehr aufrufbar.

Das ist Schade. Denn es war lustig, dem mit Herles — einem
der vielen tollen Interviewer des ZDF — auf kleinstem Raum
zusammengesperrten Rainald zuzuschaun.

Wolfgang Herles: Ihr Roman, Herr Goetz, spielt in einer völlig
moralisch verrotteten Welt. Und hinten drauf auf dem Buch
(liest) Wütend schritt ich voran. Ist das nun ein (macht eine
Faust) WUTBUCH oder schon eine KARIKATUR dieser Gesell-
schaft?

Rainald Goetz: Ähm, ich habe, ähm, den vielen Kritiken ent-
nommen, dass das als Karikatur empfunden wird, ich selber
hab’s nicht so verstanden und gemeint, ich hab’ eine radikale
Vorstellung von der FIGURIZITÄT der dargestellten Figuren hier,
also der Nicht (Pause) Menschlichkeit…

WH (unterbricht): Aber das sind doch alles Volltrottel, Deppen,
wenn die (gestikuliert mit dem linken Arm) so blöd wären, wie
Sie schreiben, wär’n die doch nie so weit gekommen.

RG: Ähm, ich hab’ hier grade auf der Herfahrt (zeigt auf eine
vor dem Sofa ausgebreitete Zeitung) in der Wissenschaftsseite
der FAZ vom Mai 2011 Die dunkle Seite der Macht, einen riesen
Artikel wieder gelesen, es gibt viele Untersuchungen darüber,
jeder Mensch hat das schon erfahren, dass die Leute, je weiter
sie oben in der Hierarchie aufgestiegen sind, umso verblödeter
geworden sind. Und das spielt sich auf allen Ebenen der Hierar-
chie, der Macht, der Machtverhältnisse ab. Ich hab’ auch gar
nicht so sehr alle möglichen oder viele Figuren zu zeigen ver-
sucht, sondern mich konzentriert auf das Psychogramm dieses
einen Titelhelden Johann Holtrop.

WH: Aber gerade an der (fasst sich direkt neben der Nase an
die linke Wange) Psychologie fehlt es, weil die Leute sind doch
sehr holzschnitzartig (sic) superblöd (RG protestiert), so dass
man sich eigentlich gar nicht über die richtig ärgern kann, weil,
wer so blöd ist, der gehört eigentlich ins Irrenhaus, aber nicht
an die Spitze eines Konzerns.

RG (kopfschüttelnd): Ich empfinde das gar nicht so, ich kann
das, ich könnte viele Beispiele nennen… Mir gefällt: also natür-
lich der Holtrop in allererster Linie sehr, sehr gut. Ich bin abso-
lut fasziniert von dem, ich bin von der Art seiner Blindheit…

WH (wirft ein): Da spricht der Arzt.

RG: Nein, überhaupt gar nicht. Da, da spricht der Mitmensch,
der selbst (zappelt) verrückte, der voller asozialer Tendenzen
steckt, wie die, die so ein Macht-Mann real ausleben kann, die
hat… Jeder Künstler ist voll von solchen asozialen, ähm, Emp-
findungen… Und ich untersuche jetzt, wie dieser Mensch… oder
ich gehe mit dem Typen im Grunde im ersten Kapitel drei Tage,
im zweiten Kapitel sieben Monate und im dritten extrem schnel-
len Kapitel neun Jahre…

WH (unterbricht): Aufstieg und Sturz ist das Ganze…

RG: Noch nicht mal ein Aufstieg, es ist einfach ein einziger Ab-
stieg, und… Aber ich schaue, ich versetze mich in viele Situatio-
nen rein, in denen er (Pause) agiert und schaue, welche Inter-
aktionen, welche konkreten Geschehnisse in diesen Situationen
stattfinden. Und für mich sind die Leute überhaupt gar nicht Trot-
tel, ich könnte reihenweise Beispiele aufzählen, ich hab’ hier
(greift nach einer blauen Kopie im DIN A 3 Format) so ein Plakat
gemacht.

WH (unterbricht): Ja, aber ich könnte Ihnen auch Zitate bringen…

RG (lehnt sich zurück): Bitte!

WH: …aus Ihrem Buch: Es sind imbezile Restseelenruinen im Voll-
trottelmodus. Das ist doch deutlich genug.

RG: Genau, das ist sozusagen ein bestimmter, eine bestimmte
Entscheidung zu einem, wie ich das empfinde, schimpfenden Stil.
Ich wollte eben nicht ins Innere der Figuren mich hineinbegeben…
Immer wenn sozusagen die Versuchung da war, dass ein Innentext
sich meldet, bin ich (weicht zurück) zurückgetreten und habe in-
tellektuelle, analytische Schärfe und Beschimpfung eingesetzt,
einfach weil das meinem Naturell so entspricht… Und ich wollte
einen realistischen Roman, ich wollte den kommerziellen Realis-
mus, der ganz gerade glatt runtererzählt, wollte ich aufladen
mit maximaler Intellektualität, Schärfe, Gehässigkeit, mit allen
Impulsen, die für…

WH: Ok! Einverstanden, aber dann sind Sie kein Romanschrift-
steller, weil jeder Romanschriftsteller muss selbst wenn er einen
Kindermörder…

RG (unterbricht): Ich weiß gar nicht, wer behauptet das?

WH: …ein gewisses Mitleid, eine gewisse Sympathie für seine Figu-
ren haben.

RG: Nein, muss man überhaupt nicht. Das wird überall behauptet,
da bin ich ganz anderer Ansicht. Es ist der Roman… Wenn der Ro-
man misslungen ist, das kann sein, dass die Leute den misslungen
finden, ich find’ es überhaupt nicht misslungen, ich finde, dass der
Roman das machen kann, der Roman muss seine Figuren… Das ist
eine völlig absurde Vorstellung, dass der Autor seine Figuren irgend-
wie hochschätzen, lieben oder irgendwas andres muss. Nein, muss
er nicht! Er kann sie so zeigen, wie er sie sieht.

WH (erringt schließlich das Wort): Aber Sie müssen doch verstehen,
wie die Figuren denken, wie sie motiviert sind.

RG: Nein, nein, ganz und gar nicht. Ich verstehe, wie die Figuren
handeln, das ist ganz was anderes. Ich versteh’ eben nicht, wie sie
denken, ich verstehe es nicht und ich gebe dem Leser — es ist das
erste Buch, das ich geschrieben habe, das wirklich auf die Mitarbeit
des Lesers kalkuliert — ich gebe es dem Leser anheim, seine Schluss-
folgerungen daraus zu ziehen. Ich zeige Situationen, ich zeige wenig
Dialoge, ich zeige ganz wenig Gedanken, ich zeige viel eigene Intel-
lektualität und gebe das frei zur Reflektion des Lesers. Und im übri-
gen ist der Roman auch saulustig, also an ganz vielen Stellen.

WH: Also doch auch Karikatur.

RG: Karikatur? Es ist auch ganz ernste Kunst, wenn ich Gemälde von
Albert Oehlen nehme, abstrakte Bilder, da lach’ ich mich tot manch-
mal, weil die so verrückt sind, so radikal, so extrem, also lustig ist
nicht George Grosz und Karikatur, sondern lustig ist eine Kategorie
des Geistes, ein Extremismus, der, der, der…

WH: Aber ist es nicht schwer, über eine Welt zu lachen, die für uns
so wichtig geworden ist… Die Wirtschaft bestimmt zum großen Teil
unser Leben und es ist absolut nicht spaßig, von Volltrotteln regiert
zu werden, mitregiert zu werden.

RG: Also, ähm, es ist ja nicht so, dass nur darüber gelacht werden
soll, es ist sozusagen… es wird der Ernst dieser Geschichten gezeigt,
es wird ja auch gezeigt, wie die Leute sehr tragisch… die erste Ne-
benhauptfigur im ersten Teil, ein höherer Angestellter namens The-
we, der da entlassen wird, so im Hopplahopp-Modus, wie es absolut
die Regel ist — Ich hab’, ich kenne x, x, x Geschichten, wie das ge-
nau so — und der sich dann, der es so schwer nimmt, weil es in sein
Leben so unangenehm reinpasst, dass er sich das Leben nimmt. Also
es sind tragische Gestalten, sie sind tragisch, sie sind lächerlich, sie
sind idiotisch, sie sind alles mögliche, und sie sind nur eines nicht,
ähm, zartfühlend, ähm, nach innen hin voller Selbstzweifel, (sucht
nach einem Wort) liebenswert, das sind sie nicht.

WH: Sie schreiben keine Romane und schon gar keine Gedichte, zwei-
fellos…

RG: Im Gegenteil, mein letztes Buch ist ein Gedichtband: D.I.E. Ab-
stract reality…

WH: Nein, diese Figuren…

RG: Ach so, die Figuren…

Transkription bricht hier ab.