Mittwoch, 31. Oktober 2012

La regola di fra’ Rinaldo


















Seit Anfang an steht Bruder Rainalds Werk unter einer Regel,
die auf den ersten Blick unmissverständlich zu sein scheint:
Don’t cry — work. Wir sollen nicht heulen, versteht sich —
doch was genau meint work. Einige Hinweise finden sich in 
seiner Antrittsvorlesung der Heiner-Müller-Gastprofessur an
der FU Berlin, die er am 10. Mai 2012 im Hörsaal 1b der so-
genannten Rostlaube in Berlin-Dahlem hielt.

Alles schreiben, alles lesen, stumm, still, allein und für sich
und dauernd — das Sprachgefühl, diese innere Letztethik,
die Denken und Weltapperzeption bestimmt, dabei beatmen,
beleben und ununterbrochen erneuern: Poetik.

Der Selbstverbesserungsimperativ, den die Schrift dem Le-
ben derer, die ihr dienen, aufgibt, heißt ganz einfach, nichts
soll abgelebt sein vom je Erlebten, alles Vergessen dazu da-
sein, es sich immer wieder als problematische Erfahrungsge-
schichte neu vorzulegen, nichts war falsch, alles dumm, kein
Gedanke je umsonst gedacht. Der Auftrag der Schrift heißt,
weggehen von ihr, ein Leben führen und zwar bestmöglich
und so reich an allem wie es nur geht, das den schriftinhä-
renten Isolationismus aufsprengt, widerlegt, verunmöglicht,
aber als Sehnsucht eines wahren, besseren Lebens in der
Stille der Texte zugleich erhält und die Bewegung dorthin
so immer wieder neu veranlasst.

Dienstag, 9. Oktober 2012

Il demone di fra’ Rinaldo


















Der Dämon, der in mir ist und mich regiert, ist grausam. Ich
kenne ihn nicht. Ich jage ihn mit meiner Intellektualität, ver-
wende mehr Kraft als auf alles andere wahrscheinlich darauf,
ihn zu finden, zu verstehen, zu erkennen und so final hoffent-
lich endlich zu entmächtigen. Es gelingt nicht. Ich kann ihn
nicht finden, nur seine Spuren, die Art registrieren, wie er mir
verunmöglicht, so zu leben wie ich will: produktiv, stetig, offen,
frei.

Der Dämon ist auf jeden Fall eine Lupe, die alles vergrößert und

verschärft, was mir geschieht. Ganz normale Verhaltensweisen
von Leuten um mich herum: riesig, überscharf, der Horror. Ge-
nauso in mir, die Gedanken und Gefühle in mir, die Irritationen:
riesig, niederdrückend, gewaltig, den Augenblick total beherr-
schend. Im nächsten Moment weg, wie nie gewesen. Ein Hohn
auf die verrückte Erregung, die eben noch geherrscht hat, weg.
Die Sprunghaftigkeit des Dämons ist quälend, sie ist der Selbst-
widerspruch zur Übergröße der Obsession im Augenblick davor.

Der Dämon ist der Blick aus meinen extrem engstehenden Augen.

Mit jedem Jahr wachsen sie noch enger, obsessiver, absurder zu-
sammen. I hate.

Der Dämon will allein sein und nie mehr schreiben. Lesen, im Bett

liegen, schlafen. Lesen und ehrlich gesagt und genau genommen
und am allerliebsten vielleicht ja doch auch schon ein bisschen tot
sein oder auch ganz tot und für immer. Ruhe, Ruhe ist die Sehnsucht,
totale Panik in Permanenz die Realität.

Dämon abzugeben, günstig, gern. Der Dämon verschlechtert meine

Arbeit, weil er mein Leben so wahnsinnig verkompliziert. Die Arbeit
profitiert nicht vom komplizierten Leben. Das hab' ich eigentlich
immer gehofft, dass das so wäre, aber das stimmt nicht. Die Kompli-
ziertheit verdummt mich, schwächt mich, verengt meinen Geist.
Wenn der Dämon weg ist, kann ich sehen, was ich meine, sagen will
und denke. Wenn der Dämon da ist, bin ich blind. Ich versuche dann
mit einer irrwitzigen Energie, mich zu konzentrieren. Mein Frontal-
hirn wird von dieser Absicht in einen brutalen Folterschraubstock
eingespannt, dort zusammengepresst und ausgewrungen. Unfass-
bare Frontalhirnerschöpfungen resultieren aus der Konzentrations-
anstrengung, die schlimmsten Erschöpfungszustände, ohne dass
irgendein Konzentrationsresultat aus der Bemühung entstanden
wäre.

Der Dämon ist ein Lebensenergievernichter galaktischer Dimension,

eine Lebensvernichtungsgalaxie pulsiert in mir.

Dann sagt der Nebenmann etwas, während das Gegenüber auch re-

det, Hirnstromkurzschluss ist das dämoninduzierte Resultat. Andere
Leute finden das normal, dass quer über sie hinweg zwei oder drei
Gespräche gleichzeitig geführt werden. Mein Dämon sendet so Be-
scheid: ein irrwitzig schrilles Pfeifen, das immer lauter wird, bis der
Kurzschluss es beendet. Der Dämon liebt deshalb die Geselligkeit,
die ich so verehre, gar nicht. Auch unter Leuten hat der Dämon ein
Ziel und eine Absicht, mich fertig zu machen, mir die Freude an den
Menschen zu verunmöglichen.

Mein Dämon ist Galle und Saturn, schwer und böse. Geh weg, Dämon,

fordert die kompensatorische Hyperfokussierung ultimativ, schweige,
stirb, sei still, damit ich mich endlich besser konzentrieren, endlich
besser leben kann. Der Dämon nickt belustigt. Er selbst ist gar nicht
komisch, der Text über ihn schon. Dieser Widerspruch heißt texttypi-
scherweise Anmut, Milde, Unsinn, Wahn.

„Der Dämon“, 7. Kapitel der Antrittvorlesung der Heiner-Müller-Gast-
professur 2012 von Rainald Goetz: Leben und Schreiben. Der Existenz-
auftrag der Schrift. Transkription der Videoaufzeichnung vom 10. Mai
2012, 18.00 Uhr, Hörsaal 1b, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin.