Sonntag, 25. März 2012

Übertragungswege


















Im zweiten Band der von seiner Tochter Ruth Sieber-Rilke
und ihrem Mann Dr. Carl Sieber herausgegebenen Briefe
Rainer Maria Rilkes (Briefe aus den Jahren 1906 bis 1907,
Leipzig, Insel, 1930) ist Clara Westhoff-Rilke — Ehefrau des
Dichters und Mutter der Herausgeberin — die mit Abstand
wichtigste Adressatin (92 von 209 Briefen). Ihr schrieb er
neben dem, „was er, der Zartfühlende, als persönlichstes
Eigentum des Briefempfängers empfinden würde“, vieles,
was Produkt der „Ergiebigkeit seiner Natur“ war, d.h. laut
seiner letztwilligen Verfügung veröffentlicht werden sollte.
Tatsächlich war es nicht wenigen Briefstellen vergönnt, zu
Gemeinplätzen einer besonders in Frankreich gepflegten
kunsttheoretischen Essayistik zu werden. Beispielhaft ver-
folgen kann man das an einer Briefstelle, in der Rilke die
äußerste Gefährlichkeit der Kunstproduktion beschwört.
Aus Paris schreibt Rilke am Montag, den 24. Juni 1907 an
Clara:

„ . . . heute früh [kam] Dein langer Brief, mit allen Deinen
Gedanken . . . Kunstdinge sind ja immer Ergebnisse des In-
Gefahr-gewesen-Seins, des in einer Erfahrung Bis-ans-Ende-
gegangen-Seins, bis wo kein Mensch mehr weiter kann. Je
weiter man geht, desto eigener, desto persönlicher, desto
einziger wird ja ein Erlebnis, etc.“

Gaston Bachelard zitiert diese Stelle in seinem 1957 unter
dem Titel La Poétique de l’espace erschienenen Buch in der
Übersetzung Hélène Zylberbergs und Jean Nougayrols, die
1934 bei Stock (RMR, Lettres [1900-1911]) erschienen war:

„Les œuvre d’art naissent toujours de qui a affronté le dan-
ger, de qui est allé jusqu’au bout d’une expérience, jusqu’
au point que nul être humain ne peut dépasser. Plus loins
on pousse, et plus propre, plus personelle, plus unique, de-
vient une vie, etc.“

Im neunten, „La dialectique du dehors et du dedans“ über-
schriebenen Kapitel, zitiert Bachelard Rilkes Briefstelle, um
seine These zu bekräftigen, dass „eine Philosophie der Ein-
bildungskraft […] dem Dichter bis an die äußerste Grenze
seiner Bilder folgen [müsse], ohne jemals diesen Extremis-
mus zu reduzieren, der das eigentliche Phänomen des dich-
terischen Schwunges“ sei. Allerdings nur, um im Anschluss
zu fragen, welcher Gefahr der Dichter ausgesetzt war, und
in welcher Erfahrung er bis ans Ende gegangen ist. Das lau-
tet in der bereits zitierten Übersetzung Kurt Leonhards, die
1960 bei Hanser (München) in Höllerers Reihe Literatur als
Kunst erschienen war, wie folgt:

„[I]st es nötig, die Gefahr außerhalb der Gefahr des Schrei-
bens, der Gefahr des Ausdrucks zu suchen? Bringt der Dich-
ter nicht die Sprache in Gefahr [ne met-il pas la langue en
danger]? Spricht er nicht das gefährliche Wort aus?“

Was in Bachelards „Dialektik des Draußen und des Drinnen“
an zentraler Stelle zitiert wurde, diente bereits fünf Jahre
zuvor einer ganz ähnlichen Argumentationsfigur. Blanchot
zitiert in seinem 1952 in Les Temps modernes erschienenen
Artikel „L’Art, la littérature et l’expérience originelle“
La Littérature et l’expérience originelle, EL.