Freitag, 7. Dezember 2012

This is not 33, this is 63…


















Offensichtlich ist Benjamins Diktum, Geschichte schreiben
heiße, Jahreszahlen eine Physiognomie geben, mittlerweile
common sense. Denn selbst der Chefideologe der Generation
Golf, die längst den Suburbs ihrer Jugend den Rücken gekehrt
hat und zum Leidwesen aller Großstadtpflanzen die urbanen
Zentren flutet, versucht es nun für das letzte Jahr des langen
19. Jahrhunderts – immerhin umweht das Jahr 1913 der thrill
der jüngst so gern bemühten „Vorkriegszeit“. Nicht schön.

Wo allenthalben von Beschleunigung die Rede ist, sollte man
probehalber die Zeitspannen des Gedenkens halbieren, also
sich nächstes Jahr auf 1963 konzentrieren. Auch das so fern,
und zugleich so nah: tiefstes 20. Jahrhundert eben.  

Mittwoch, 7. November 2012

Der Zorn des Olymp


















Unbemerkt neigt sich der 119. Jahrestag des Bombenanschlags
im Liceu in Barcelona seinem Ende zu. Wer erinnert sich schon
des 7. November 1893, als eine aus dem Olymp geschleuderte
Orsinibombe im Parkett des an den Ramblas gelegenen Opern-
hauses 20 Menschen in den Tod riss? 

Mittwoch, 31. Oktober 2012

La regola di fra’ Rinaldo


















Seit Anfang an steht Bruder Rainalds Werk unter einer Regel,
die auf den ersten Blick unmissverständlich zu sein scheint:
Don’t cry — work. Wir sollen nicht heulen, versteht sich —
doch was genau meint work. Einige Hinweise finden sich in 
seiner Antrittsvorlesung der Heiner-Müller-Gastprofessur an
der FU Berlin, die er am 10. Mai 2012 im Hörsaal 1b der so-
genannten Rostlaube in Berlin-Dahlem hielt.

Alles schreiben, alles lesen, stumm, still, allein und für sich
und dauernd — das Sprachgefühl, diese innere Letztethik,
die Denken und Weltapperzeption bestimmt, dabei beatmen,
beleben und ununterbrochen erneuern: Poetik.

Der Selbstverbesserungsimperativ, den die Schrift dem Le-
ben derer, die ihr dienen, aufgibt, heißt ganz einfach, nichts
soll abgelebt sein vom je Erlebten, alles Vergessen dazu da-
sein, es sich immer wieder als problematische Erfahrungsge-
schichte neu vorzulegen, nichts war falsch, alles dumm, kein
Gedanke je umsonst gedacht. Der Auftrag der Schrift heißt,
weggehen von ihr, ein Leben führen und zwar bestmöglich
und so reich an allem wie es nur geht, das den schriftinhä-
renten Isolationismus aufsprengt, widerlegt, verunmöglicht,
aber als Sehnsucht eines wahren, besseren Lebens in der
Stille der Texte zugleich erhält und die Bewegung dorthin
so immer wieder neu veranlasst.

Dienstag, 9. Oktober 2012

Il demone di fra’ Rinaldo


















Der Dämon, der in mir ist und mich regiert, ist grausam. Ich
kenne ihn nicht. Ich jage ihn mit meiner Intellektualität, ver-
wende mehr Kraft als auf alles andere wahrscheinlich darauf,
ihn zu finden, zu verstehen, zu erkennen und so final hoffent-
lich endlich zu entmächtigen. Es gelingt nicht. Ich kann ihn
nicht finden, nur seine Spuren, die Art registrieren, wie er mir
verunmöglicht, so zu leben wie ich will: produktiv, stetig, offen,
frei.

Der Dämon ist auf jeden Fall eine Lupe, die alles vergrößert und

verschärft, was mir geschieht. Ganz normale Verhaltensweisen
von Leuten um mich herum: riesig, überscharf, der Horror. Ge-
nauso in mir, die Gedanken und Gefühle in mir, die Irritationen:
riesig, niederdrückend, gewaltig, den Augenblick total beherr-
schend. Im nächsten Moment weg, wie nie gewesen. Ein Hohn
auf die verrückte Erregung, die eben noch geherrscht hat, weg.
Die Sprunghaftigkeit des Dämons ist quälend, sie ist der Selbst-
widerspruch zur Übergröße der Obsession im Augenblick davor.

Der Dämon ist der Blick aus meinen extrem engstehenden Augen.

Mit jedem Jahr wachsen sie noch enger, obsessiver, absurder zu-
sammen. I hate.

Der Dämon will allein sein und nie mehr schreiben. Lesen, im Bett

liegen, schlafen. Lesen und ehrlich gesagt und genau genommen
und am allerliebsten vielleicht ja doch auch schon ein bisschen tot
sein oder auch ganz tot und für immer. Ruhe, Ruhe ist die Sehnsucht,
totale Panik in Permanenz die Realität.

Dämon abzugeben, günstig, gern. Der Dämon verschlechtert meine

Arbeit, weil er mein Leben so wahnsinnig verkompliziert. Die Arbeit
profitiert nicht vom komplizierten Leben. Das hab' ich eigentlich
immer gehofft, dass das so wäre, aber das stimmt nicht. Die Kompli-
ziertheit verdummt mich, schwächt mich, verengt meinen Geist.
Wenn der Dämon weg ist, kann ich sehen, was ich meine, sagen will
und denke. Wenn der Dämon da ist, bin ich blind. Ich versuche dann
mit einer irrwitzigen Energie, mich zu konzentrieren. Mein Frontal-
hirn wird von dieser Absicht in einen brutalen Folterschraubstock
eingespannt, dort zusammengepresst und ausgewrungen. Unfass-
bare Frontalhirnerschöpfungen resultieren aus der Konzentrations-
anstrengung, die schlimmsten Erschöpfungszustände, ohne dass
irgendein Konzentrationsresultat aus der Bemühung entstanden
wäre.

Der Dämon ist ein Lebensenergievernichter galaktischer Dimension,

eine Lebensvernichtungsgalaxie pulsiert in mir.

Dann sagt der Nebenmann etwas, während das Gegenüber auch re-

det, Hirnstromkurzschluss ist das dämoninduzierte Resultat. Andere
Leute finden das normal, dass quer über sie hinweg zwei oder drei
Gespräche gleichzeitig geführt werden. Mein Dämon sendet so Be-
scheid: ein irrwitzig schrilles Pfeifen, das immer lauter wird, bis der
Kurzschluss es beendet. Der Dämon liebt deshalb die Geselligkeit,
die ich so verehre, gar nicht. Auch unter Leuten hat der Dämon ein
Ziel und eine Absicht, mich fertig zu machen, mir die Freude an den
Menschen zu verunmöglichen.

Mein Dämon ist Galle und Saturn, schwer und böse. Geh weg, Dämon,

fordert die kompensatorische Hyperfokussierung ultimativ, schweige,
stirb, sei still, damit ich mich endlich besser konzentrieren, endlich
besser leben kann. Der Dämon nickt belustigt. Er selbst ist gar nicht
komisch, der Text über ihn schon. Dieser Widerspruch heißt texttypi-
scherweise Anmut, Milde, Unsinn, Wahn.

„Der Dämon“, 7. Kapitel der Antrittvorlesung der Heiner-Müller-Gast-
professur 2012 von Rainald Goetz: Leben und Schreiben. Der Existenz-
auftrag der Schrift. Transkription der Videoaufzeichnung vom 10. Mai
2012, 18.00 Uhr, Hörsaal 1b, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin. 

Samstag, 29. September 2012

Chung Kuo Cina (1972)











Montag, 10. September 2012

Totenhütte, Sonnenschutz


















Heute vor exakt zehn Jahren, einen Tag, bevor sich die Zer-
störung des WTC erstmals jährte, war Heidi Paris in tiefen
Schlaf gefallen. Als man sie fand, atmete sie unüberhörbar
in unheilverheißender Regelmäßigkeit. Wecken ließ sie sich
nicht. Der das Sanitäterteam begleitende Notarzt bestätigte
die während des Wartens aufkeimenden Befürchtungen. Sei-
ne Diagnose – selbstredend unter Vorbehalt – lautete irrever-
sibles Koma... Hirntod. Sollte sie, wider Erwarten, aus die-
sem dennoch erwachen, wäre sie, da dürfe man sich keine
Illusionen machen, nicht mehr dieselbe.

„Und so kamen kurz darauf die Freunde, Hannes Böhringer
hat es beschrieben, an ihr Krankenbett, sie hatte es also ge-
macht, es war so gelaufen, dass sie nicht sofort ganz tot ge-
wesen war, sie lebte noch, bewusstlos, der Körper lebte noch,
gab uns so Gelegenheit, von ihr, die schon mal vorgegangen
war zu den Toten, Abschied noch nehmen zu können.“ So be-
schreibt es Rainald Goetz in loslabern. Heidis Krankenbett
stand in der Intensivstation des Urbankrankenhauses, wo sie
am 15. September für tot erklärt wurde. Am 4. Oktober fand
im Krematorium Wilmersdorf die Trauerfeier statt.

  
















Bestattet wurde Heidi Paris am Nordhang des Teltowplateaus,
das zwischen Monumenten- und Großgörschenstraße sanft zum
Berliner Urstromtal abfällt. Um zu ihrem Grab in der Abteilung
SU des Alten St.-Matthäus-Kirchhofs zu gelangen, steigt man
den Hang hoch, vorbei an einem riesigen Steinkreuz, das aus
dem Gräberfeld hervorragt wie ein SUV aus den am Straßen-
rand geparkten PKW. Hier ruht Friedrich Julius Stahl, Vorden-
ker eines preußisch-protestantischen Gottesstaates und Con-
sultant der Kamarilla Friedrich Wilhelms IV. Jetzt noch schnell
ein Abstecher zu den Gebrüdern Grimm.

   
 



Dienstag, 28. August 2012

Abfall für viele


















Sonntag, 24.5.98, Berlin.

1152. Wo bleiben die Geburtstagsgeschenke? Morgens früh
um 5 nach halb 6 kam die erste Lieferung: kolikartige Ma-
genkrämpfe, brutale Kopfschmerzen weckten mich auf, alles
voll Grippegefühl, der ganze Körper. Und ich dachte, passt
super, Tag im Bett, abgeschlagen, niedergeschlagen, krank.
Praxis V: KRANK. Nicht Kritik, KRANK.

Aussicht
Pfirsich spricht Gedicht
Ist nicht richtig
Licht
Geschicht

So.
Oder so ähnlich.
Oder ein bißchen anders.

[…]

2259. Ich flippe durch die Kanäle, lande im WDR, da kommt ge-
rade wieder Patrick Walders Kritik-Film über Techno-Literatur,
mit dem Rave-Verriß fürs Fernsehen. Ich muß ihn mal fragen,
ob er ihn flächendeckend an alle dritten Programme verkauft
hat. Danach, beim Jubel-Porträt vom großen Theaterschreiber
Albert Ostermaier, denke ich mir wieder: lieber noch so schlimm
verrissen werden, als sich abfilmen, und sich dann von den Trot-
teln vom Fernsehen auch noch loben lassen. Lob vom Fernsehkul-
turfilmer: die letzte Erniedrigung, die allerletzte. Theo Roos hat
uns das angetan, mit seinem Lall-Film über das Mix-Büchlein. Das
war echt hart. Da habe ich mich wirklich zutode geschämt, daß
ich da mitgemacht habe. Ich war dabei: ja, ich kriege immer die-
ses Nazigefühl, bei diesen ganzen Kultur-Nutten-Sachen, weil es
auf so eine fiese Art dazugehört, weil die Weigerung so was blöde
Prätentiöses hat, weil man sich irgendwie natürlich auch selber
schadet damit, und weil es doch und im Prinzip und im Grunde
und in echt wirklich komplett ASOZIAL ist, der ganze Scheiß, In-
terview, Porträt, bla bla, kaputt, verottet, verlogen, böse und
gegen alles Richtige gerichtet. Ja, nein, echt, genau. So ist das.
Dann wollte ich meinen Heizblaser anmachen, Kurzschluß, Brand-
geruch, wo ist der Schraubenzieher? Aufschrauben und Reparieren,
funktioniert, das macht gute Laune.

Rainald Goetz, Abfall für alle. Roman eines Jahres, Frankfurt am
Main: Suhrkamp 1999, S. 346f.


                                                                26. Juni [2009], Mailand

Aus Offenburg ruft abends Peter Weibel an, um Glückwünsche zum
62. Geburtstag zu übermitteln. Er gibt den Hörer weiter an eine
dort versammelte Gesellschaft. Fast ungläubig höre ich die Grüße
von Ulla Berkéwicz, Raimund Fellinger, Hubert Burda, Prinz Max von
Baden und Peter Handke.
Das Abendessen im Nobellokal Trussardi della Scala neben der Oper
litt sehr darunter, daß das Restaurant der lokalen Kochkunst de[n]
Rücken gekehrt hat und sich an einer imaginären haute cuisine orien-
tiert, von der man die Prätention spürt, aber den Erfolg nicht sieht.
So saß man da, schaute aus dem Fenster auf den schönen Platz vor
der Oper und versuchte doch zu glauben, es sei ein Fest.
Aristoteles stellt fest, der großgesinnte Mensch (megalopsychos) ist
nicht anthropológos — kein Schwätzer von allzu menschlichen Affai-
ren. (Nikomachische Ethik 1125a5) Im Griechischen gibt es überdies
ein Verbum anthropologéo, ich vermenschliche, ich übersetze (sc.
göttliche Dinge) in humane Ausdrücke. Die moderne Anthropologie —
ist sie vielleicht eine gossip-Disziplin im philosophischen Register?

Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage. Notizen 2008-2011, Berlin: Suhr-
kamp 2012, S. 232f.

Freitag, 6. Juli 2012

Born in the USE


















Paris, 16. April 1949: Robert Marjolin, OEEC Secretary-General,
broadcasting from the Voice of America radio studios to comme-
morate the first anniversary of the Marshall Plan and the OEEC.

Dienstag, 12. Juni 2012

Letzte Worte


















Fresko in Zelle 36 des Klosters San Marco in Florenz 

Beato Angelico und seine Gehilfen dekorierten mehr als 40 Zel-
len des Dominikanerklosters San Marco in Florenz mit Szenen
aus dem sogenannten Leben Jesu (inkl. dessen Verkündigung,
Ende und transfigurierter Wiederaufnahme). Die Dominikaner
schienen sich besonders für für dessen Ende zu interessieren,
denn 21 Fresken zeigen die Kreuzigung. 

Eigens hatte er sich Postkarten drucken lassen, auf deren Rück-
seite die Sparten «Autor», «Letztes Wort» und «Quelle» schon
vorab tabellarisch eingefügt waren. Vorgedruckt adressiert wa-
ren die Todesbotschaften an:

Ernst Jünger
Wilhelm Hauff-Str. 18
Ravensburg

Die meisten Karten beschriftete Jünger selbst. Bisweilen ergänz-
te er die Sammlung aber auch um ein letztes Wort, das ihm von
seinen Sekretären Armin Mohler und Albert von Schirnding  oder
Freunden zugesteckt wurde, die er mit den vorgedruckten Karten
versorgt hatte.

Unmengen von letzten Worten hat Jünger durch alle Zeiten und
Räume, von Sokrates bis Oscar Wilde, mit den Jahren aufgespießt,
in alphabetische Ordnung gebracht, ohne Rücksicht auf den Rang
oder seine Wertschätzung der Toten. 

Die Hunderte von Sentenzen sind im Marbacher Literaturarchiv in
vier Karteischubern aufbewahrt.
-->

Donnerstag, 10. Mai 2012

»Junger Mann«


















„Literatur wird nicht in der Werkstatt gemacht, sondern
im Kopf. Der Kopf ist keine Werkstatt. Die Literatur ist
kein Handwerk. […] Alles, was Handwerk ist am Schrei-
ben, ist komplett egal. […] Der schlechte Text ist nicht
verbesserbar.“

NACHTRAG: Sagte Rainald Goetz am 10. Mai tatsächlich
— wie man nun allerorten liest —, Mitgefühl sei „die fro-
he Botschaft der Literatur“? Ein Blick in meine Notizen
zeigt, dass ich das Kompositum „Frohbotschaft“ zu hören
meinte. Mitschreiben war jedoch noch nie meine Sache.
Die LOGIK DES DIKTATS leuchtete mir schon in der Schule
nicht ein.

Wer seine das Diktierte ordnungsgemäß niederschreiben-
den Mitschüler mit der an den Lehrer gerichteten Bitte,
bereits mehrfach Diktiertes noch einmal zu wiederholen,
nicht selten aus dem Konzept gebracht hat, dem ist die
Aufzeichnung mündlichen Vortrags ein Segen. Unbegrenz-
te Wiederholbarkeit erlaubt auch ihm, den genauen Wort-
laut zu notieren.

24.5.12  Wann kommen die Geburtstagsgeschenke? Das
Team der Telekom hat per SMS herzlich gratuliert. Dann
dieser Gutschein von der Lufthansa: Extra Prämienmeilen
für eine Bestellung über 50 EURO bei irgendeinem so ge-
nannten Onlinebookstore. Geben Sie folgenden Code ein!
Die schönste Überraschung gab es beim Perlentaucher via
Ekkehard Knörers Facebookseite: „Ihr Geschenk befindet
sich seit dem 22. Mai auf der Website der FU Berlin: der
Videomitschnitt von Goetz’ Antrittsvorlesung leben und
schreiben. der existenzauftrag der schrift.“

Danke Perlentaucher! Danke Herr Knörer! Und nicht zu-
letzt, danke Peter-Szondi-Institut!

Endlich mal wieder ganz Phonotypist sein können. Exakte
Dauer der Vorlesung: 46 Minuten und 23 Sekunden. Freude
darüber, richtig gehört zu haben: „Mitgefühl ist die große
Frohbotschaft der Literatur.“ Freude auch darüber, dass
Goetz Punkt VI (ZUHÖREN) exakt nach 15 Minuten mit fol-
genden Worten beginnt: „Da schlafen den ersten Zuhörern
schon die Füße ein. Ich weiß das. Kein Mensch kann einem
noch so stringent oder gar luzide ausgedachten und vorfor-
mulierten Text, der ihm vorgelesen wird, mehr als 15 Mi-
nuten rein freudig wirklich folgen.“

„Mit einer Wachheit, die einem selbst entspräche, ist bei
den anderen also nicht zu rechnen, befindet der Hektiker,
dem an jeder zweiten Theke, bei jedem zweiten Weltkon-
takt, an fast jeder Supermarktkasse die Empfehlung meist
ziemlich imperativisch von den ruhig in sich selbst Ruhen-
den gegeben wird, sich bisschen locker zu machen, alles
ganz easy, keine Panik, geht schon, wird schon. „Nu sind
se mal nich’ so hektisch, junger Mann!“ So original gestern
wieder im REWE. Für Nicht-Berliner, das berlinische „jun-
ger Mann“ gilt für alle Alter, wird besonders gern den Leu-
ten ab 40, 50 aufwärts ironisch übergezogen, wobei der
Sprecher von der Ironie, so selbstverständlich ist ihm sein
Sprachgebrauch, gar nichts weiß [1:38 – 2:23].“   

Samstag, 28. April 2012

Alltäglichkeit


















Il quotidiano, ciò che avviene ordinariamente, non è forse
una utopia, un mito di un’esistenza priva di mito?

Sonntag, 25. März 2012

Übertragungswege


















Im zweiten Band der von seiner Tochter Ruth Sieber-Rilke
und ihrem Mann Dr. Carl Sieber herausgegebenen Briefe
Rainer Maria Rilkes (Briefe aus den Jahren 1906 bis 1907,
Leipzig, Insel, 1930) ist Clara Westhoff-Rilke — Ehefrau des
Dichters und Mutter der Herausgeberin — die mit Abstand
wichtigste Adressatin (92 von 209 Briefen). Ihr schrieb er
neben dem, „was er, der Zartfühlende, als persönlichstes
Eigentum des Briefempfängers empfinden würde“, vieles,
was Produkt der „Ergiebigkeit seiner Natur“ war, d.h. laut
seiner letztwilligen Verfügung veröffentlicht werden sollte.
Tatsächlich war es nicht wenigen Briefstellen vergönnt, zu
Gemeinplätzen einer besonders in Frankreich gepflegten
kunsttheoretischen Essayistik zu werden. Beispielhaft ver-
folgen kann man das an einer Briefstelle, in der Rilke die
äußerste Gefährlichkeit der Kunstproduktion beschwört.
Aus Paris schreibt Rilke am Montag, den 24. Juni 1907 an
Clara:

„ . . . heute früh [kam] Dein langer Brief, mit allen Deinen
Gedanken . . . Kunstdinge sind ja immer Ergebnisse des In-
Gefahr-gewesen-Seins, des in einer Erfahrung Bis-ans-Ende-
gegangen-Seins, bis wo kein Mensch mehr weiter kann. Je
weiter man geht, desto eigener, desto persönlicher, desto
einziger wird ja ein Erlebnis, etc.“

Gaston Bachelard zitiert diese Stelle in seinem 1957 unter
dem Titel La Poétique de l’espace erschienenen Buch in der
Übersetzung Hélène Zylberbergs und Jean Nougayrols, die
1934 bei Stock (RMR, Lettres [1900-1911]) erschienen war:

„Les œuvre d’art naissent toujours de qui a affronté le dan-
ger, de qui est allé jusqu’au bout d’une expérience, jusqu’
au point que nul être humain ne peut dépasser. Plus loins
on pousse, et plus propre, plus personelle, plus unique, de-
vient une vie, etc.“

Im neunten, „La dialectique du dehors et du dedans“ über-
schriebenen Kapitel, zitiert Bachelard Rilkes Briefstelle, um
seine These zu bekräftigen, dass „eine Philosophie der Ein-
bildungskraft […] dem Dichter bis an die äußerste Grenze
seiner Bilder folgen [müsse], ohne jemals diesen Extremis-
mus zu reduzieren, der das eigentliche Phänomen des dich-
terischen Schwunges“ sei. Allerdings nur, um im Anschluss
zu fragen, welcher Gefahr der Dichter ausgesetzt war, und
in welcher Erfahrung er bis ans Ende gegangen ist. Das lau-
tet in der bereits zitierten Übersetzung Kurt Leonhards, die
1960 bei Hanser (München) in Höllerers Reihe Literatur als
Kunst erschienen war, wie folgt:

„[I]st es nötig, die Gefahr außerhalb der Gefahr des Schrei-
bens, der Gefahr des Ausdrucks zu suchen? Bringt der Dich-
ter nicht die Sprache in Gefahr [ne met-il pas la langue en
danger]? Spricht er nicht das gefährliche Wort aus?“

Was in Bachelards „Dialektik des Draußen und des Drinnen“
an zentraler Stelle zitiert wurde, diente bereits fünf Jahre
zuvor einer ganz ähnlichen Argumentationsfigur. Blanchot
zitiert in seinem 1952 in Les Temps modernes erschienenen
Artikel „L’Art, la littérature et l’expérience originelle“
La Littérature et l’expérience originelle, EL.              

Freitag, 10. Februar 2012

The urban turn


















Nahezu unbemerkt vollzog sich 2007 etwas, dass Anlass
zur Hoffnung gibt: die urbane Wende. Seit nunmehr fünf
Jahren leben mehr Menschen in Städten (>1.000.000) als
anderswo. Man kann also davon ausgehen, dass schon bald
in Städten Geborene und Aufgewachsene die Mehrheit der
Weltbevölkerung bilden. Der ewige Frieden rückt in greif-
bare Nähe.


















Dan McCoy, A sidewalk in the Bronx (April 1973).




















Danny Lyon, At the Kosciusko Swimming Pool in Brooklyn's
Bedford-Stuyvesant District (July 4th holiday 1974).

Mittwoch, 25. Januar 2012

Européens, encore un effort…


















Oui, finissons sans trouble et mourons sans regrets,
En laissant l’univers comblé de nos bienfaits.
Ainsi l’astre du jour, au bout de sa carrière,
Répand sur l’horizon une douce lumière,
Et les derniers rayons qu’il darde dans les airs
Sont ses derniers soupirs, qu’il donne à l’univers.

In der Kritik der Urteilskraft (§ 49) findet sich eine Prosa-
übertragung dieses Gedichtschlusses: „Laßt uns aus dem
Leben ohne Murren weichen und ohne etwas zu bedauern,
indem wir die Welt noch alsdann mit Wohltaten überhäuft
zurücklassen. So verbreitet die Sonne, nachdem sie ihren
Tageslauf vollendet hat, noch ein mildes Licht am Himmel;
und die letzten Strahlen, die sie in die Lüfte schickt, sind
ihre letzten Seufzer für das Wohl der Welt.“ Wenn sich der
dichtende Tyrann so ausdrücke, so belebe er – wie Kant er-
klärt – „seine Vernunftidee, von weltbürgerlicher Gesinnung
noch am Ende des Lebens, durch ein Attribut, welches die
Einbildungskraft (in der Erinnerung an alle Annehmlichkeiten
eines vollbrachten schönen Sommertages, die uns ein heite-
rer Abend ins Gemüt ruft) jener Vorstellung beigesellt, und
welches eine Menge von Empfindungen und Nebenvorstellun-
gen rege macht, für die sich kein Ausdruck findet“.