Sonntag, 31. Oktober 2010

Monreale


In unserer Kultur trägt die Nacktheit eine unauslöschliche
theologische Signatur. Jeder kennt die Erzählung der Ge-
nesis, der zufolge Adam und Eva erst nach dem Sündenfall
ihre Nacktheit bemerkten. „Da wurden ihrer beider Augen
aufgetan, und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren“
(Gen 3,7). Den Theologen zufolge sei dies nicht einfach
damit zu erklären, dass eine vorausgegangene Unbewusst-
heit mit der Sünde verlorengegangen wäre. Vielmehr seien
sie vor dem Sündenfall – wenn auch in kein menschliches
Gewand gekleidet – nicht nackt gewesen: Ein Kleid der Gna-
de bedeckte sie, die Glorie umhüllte sie wie mit einem Ge-
wand (in der jüdischen Version dieser Lesart, die man bei-
spielsweise im Zohar finden kann, ist von einem „Lichtkleid“
die Rede). Dieses übernatürlichen Kleides wurden sie durch
die Sünde beraubt.

Nunmehr entblößt, waren sie gezwungen, sich zu bedecken:
erst mit einem Schurz aus Feigenblättern, den sie eigenhän-
dig hergestellt hatten („[Sie] flochten Feigenblätter zusam-
men und machten Schürze“), später, bei ihrer Vertreibung
aus dem Paradies, indem sie die Tierhäute anzogen, die Gott
für sie angefertigt hatte. Es gab also nur zwei Momente der
Nacktheit für unsere Urahnen im irdischen Paradies: ein erstes
Mal in der vermutlich sehr kurzen Zeit zwischen dem Gewahr-
werden der Nacktheit und der Herstellung des Schurzes, ein
zweites Mal, als sie das Feigenblatt ablegten, um die Fellröcke
anzuziehen.

Giorgio Agamben, Nacktheiten, S. Fischer Wissenschaft, Frank-
furt am Main 2010.