Donnerstag, 26. November 2009

Abendländische Eschatologie


1947 erschien im Berner A. Francke Verlag Jacob Taubes’
Dissertation Abendländische Eschatologie. Im selben Jahr
veröffentlichten die Pariser Éditions Gallimard
die Vorle-
sungen, die Kojève von 1933 bis 1939 an der École des
Hautes Études über die Phänomenologie des Geistes ge-
halten hatte,
unter dem Titel Introduction à la lecture
de Hegel
. Zu den zentralen Themen von Kojèves Hegel-
Lektüre zählte das Problem vom Ende der Geschichte,
das „die endgültige Aufhebung des Menschen im eigent-
lichen Sinne oder des freien, geschichtlichen Individuums“
zur Folge hat. Doch was wird aus den Lebewesen, den
„Tieren der Spezies Homo sapiens, wenn der mühselige
Prozess der Arbeit und der Negation, der sie „Menschen
im eigentlichen Sinne“ werden ließ, vollendet ist?

"Indem Hegel die antik-christliche Welt, eine Epoche von
zweieinhalb Jahrtausenden abschließt, beendet er […] die
Geschichte des abendländischen Geistes. Eine neue Epoche
beginnt, die einen neuen Äon einleitet, der in einem tiefe-
ren Sinne als dem des Kalenders post Christum ist. Diese
Epoche, in der die Schwelle der abendländischen Geschich-
te überschritten ist, weiß sich zuerst als Nicht-Mehr des
Vergangenen und als Noch-Nicht des Kommenden. Dürftig
erscheint diese Zeit allen schwachen Geistern, die sich
nach Gehäusen und Sicherungen sehnen. Dem Kommenden
aber dient man nicht, indem man das Gewesene verteufelt
oder neu belebt, sondern allein dadurch, daß man standhält
im Nicht-Mehr und Noch-Nicht, im Nichts der Nacht, und sich
eben damit offen hält für die ersten Zeichen des kommenden
Tags. Wie viele für das Kommende aufgesprengt sind, zählt
nicht. Wer jene sind, das entscheidet über ihren Standort,
denn sie sind es, die die Maße des Seins vermessen, indem
sie die Winke des Kommenden deuten."

Montag, 23. November 2009

Slawische Eschatologie


A. Koschewnikoff, Berlin 10/XII/22 (Atelier Hanni Schwarz)

Im Sommersemester 1921 schreibt sich ein junger Russe, der
Jahre später unter dem Namen Alexandre Kojève einen nicht
geringen Nachruhm erwerben sollte, an der Heidelberger Uni-
versität für Philosophie und Orientalistik ein. Er besucht die
Vorlesungen Jaspers', studiert Sanskrit, Tibetanisch und Chi-
nesisch. Der Student pendelt zwischen Heidelberg und Berlin.
1926 wird er von Jaspers mit einer Arbeit über Die religiöse
Philosophie Wladimir Solowjews
promoviert.

Ein zwanzigseitiger Auszug von Alexander Koschewnikoffs
Doktorarbeit erscheint 1930 im dritten Heft des ersten Jahr-
gangs von
Der russische Gedanke, einer von Boris Jakowenko
heraus
gegebenen "internationalen Zeitschrift für russische
Philosophie, Literaturwissenschaft und Kultur"
. Der Titel des
Auszugs lautet:
"Die Geschichtsphilosophie Wladimir Solowjews".
Sein incipit schlägt bereits jenen Ton der Vergeblichkeit an, für
den Kojève berühmt werden sollte:

"Wladimir Solowjew (1853-1900) wird gewöhnlich als der größte
russische Philosoph des XIX. Jahrhunderts bezeichnet. Ohne auf
derartige vergleichende Werturteile großes Gewicht zu legen
und irgendwie dazu Stellung zu nehmen, muß man doch leider
bemerken, daß diese Bezeichnung jedenfalls nicht in dem Sinne
aufzufassen ist, als ob Solowjew ein großer Philosoph schlecht-
hin, ein Denker allerersten Ranges sei. Will man ihn einen der
bedeutendsten Philosophen und daneben etwa Dostojewski
einen der bedeutendsten Schriftsteller Rußlands nennen, so hat
man wohl in bezug auf den letzteren, aber nicht in bezug auf
den ersteren die Berechtigung, das Wort »Rußlands« zu unter-
drücken."

"[D]as Studium der Geschichte und das Nachdenken über das
Historische hat im geistigen Leben Solowjews nie eine entschei-
dende Rolle gespielt, wie ja überhaupt das Sich-Vertiefen in das
empirisch Gegebene ihm von vornherein fernlag. […] Seine Zu-
kunftsideale waren ihm […] a priori gegeben, bezw. durch sein
religiös-metaphysisches Weltbild bestimmt, und bei deren Auf-
stellung hat die Kenntnis der tatsächlichen Geschichte sicher
keine nennenswerte Rolle gespielt. […] So kann man wohl sagen,
daß er nie Geschichtsphilosophie im heutigen Sinne des Wortes,
sondern stets nur Geschichtskonstruktion getrieben hat."

Laut Koschewnikoff war "für Solowjew […] von Anfang an eine
religiös-mystische Weltauffassung charakteristisch, und seine
Philosophie hat bis zuletzt diesen religiösen Charakter beibe-
halten". Drei Etappen der "Solowjewschen Geschichtsphilosophie"
könne man unterscheiden: "1. Die Geschichtsphilosophie der
»slavophilen« Periode, 2. die der »katholischen« Periode, und
3. der Standpunkt der letzten Schrift Solowjews – der »Drei
Gespräche«. […] In seiner Magisterdissertation – »Die Krisis der
abendländischen Philosophie« (1874) – versucht er eine allge-
meine Geschichte der Philosophie zu geben, in der er (nach dem
Vorbilde Hegels) eine notwendige dialektische Entwicklung zu
finden glaubt; diese zielt auf ein religiös metaphysisches allum-
fassendes philosophisches System hin, dessen Entstehung in naher
Zukunft, und zwar auf russischem Boden zu erwarten ist. Ohne
auf den Inhalt dieser recht willkürlichen Darstellung näher ein-
zugehen, bemerkt man, daß schon hier die für Solowjews Ge-
schichtsauffassung typischen Züge deutlich hervortreten: es
wird ein zu verwirklichendes Zukunftsideal […] aufgestellt, und
die »tatsächliche« Geschichte als eine dazu mit Notwendigkeit
führende Entwicklung konstruiert."

"Für die Geschichtsphilosophie fällt […] die Tatsache ins Gewicht,
daß Solowjew den katholischen Gedanken eines theokratischen
Staates übernommen hat. Diesem althergebrachten Gedanken
gab er jedoch eine eigentümliche, panslavistisch gefärbte Wen-
dung: der theokratische Weltstaat soll durch Rußland verwirklicht
werden; in ihm soll die Menschheit unter der politischen Leitung
des Zaren und der geistigen Führung des Papstes vereinigt sein."
Allerdings bedeutete "für Solowjew die Theokratie wesentlich
nichts anderes […], als die äußere Form der Organisation jenes
»totalen Lebens«, von dem er bereits in seinen ersten Schriften
gesprochen hat. […] Prinzipiell ist der […] geschichtsphilosophische
Standpunkt dadurch charakterisiert, daß Solowjew […] die histo-
rische Entwicklung als eine allmähliche Wiederherstellung der All-
einheit auffaßt, der All-einheit die am Anfang und am Ende der
Geschichte als ewiges Gottmenschentum steht. Die Geschichte im
weitesten Sinne des Wortes ist für ihn im Grunde genommen nichts
anderes, als eine Ausbreitung des zeitlosen Absoluten in der Zeit.
[…] Die Geschichte war für ihn nur eine, wenn auch an sich sehr
wichtige Episode der gesamten Weltentwicklung, der zur schließ-
lichen Wiedervereinigung mit Gott führenden Evolution der empi-
rischen Welt überhaupt. Daneben tritt als zweites wichtiges Moment
die Tatsache, daß Solowjew an das »Gottesreich auf Erden« glaubte.
Das Ideal sollte nach ihm in der Zeit verwirklicht werden: innerhalb
der Geschichte wird die gesamte empirische Wirklichkeit ihre ideale
Vollendung erlangen, und die darauf unmittelbar folgende endgültige
Wiedervereinigung mit Gott bildet den natürlichen und notwendigen
Abschluß des historischen Prozesses."

"Solowjew meint […] nicht, daß die griechische und russische Kirche
irgend welche dogmatische Fehler begangen hat, sondern ihr Ver-
schulden ist, daß sie sich der weltlichen Macht der byzantinischen
Kaiser unterworfen und dadurch ihre eigene Macht und Autorität
verloren hat. Als die wahre Kirche gilt ihm jetzt die von dem Papst
geleitete katholische Kirche, als das nächste Ziel betrachtet er die
Vereinigung aller Kirchen mit ihr, und fordert dazu die allgemeine
Anerkennung der Autorität des Papstes. Wenn aber Solowjew die
römische Kirche für die einzige hielt, die vom Einfluß der welt-
lichen, nationalen Herrscher unabhängig geblieben ist, dadurch
ihre volle Autorität bewahrte und so als die universelle Kirche
auftreten konnte, so sah er anderseits in dem durch den ortho-
doxen Zaren regierten Rußland das einzige Land, das imstande sei
die religiöse geistige Autorität des Papstes auch mit realen Mitteln
zu unterstützen; erst durch die Vereinigung dieser beiden größten
Mächte der Welt sollte die Theokratie verwirklicht werden. Diesen
Gedanken hat Solowjew zwar nirgends näher ausgeführt, aber aus
gewissen Andeutungen kann man schließen, daß er sich in der Zu-
kunft eine Weltmonarchie gedacht hat, in der die geistige Macht
dem Papste und die weltliche dem russischen Zaren gehören sollte.
Nach der Herstellung dieses theokratischen Weltstaates erwartete
er sodann die Wiedervereinigung der Protestanten mit der Kirche,
die Bekehrung der Juden zum Christentum, sowie die allgemeine
Verbreitung desselben. Und durch die gemeinsame Arbeit der
ganzen Menschheit unter der obersten Leitung des Papstes, des
Zaren und der Propheten muß schließlich das theokratische Ideal
ganz verwirklicht und das Reich Gottes auf Erden hergestellt werden."

"Was die fernste Zukunft anbetrifft – das Gottesreich, die Wieder-
herstellung des Gottmenschentums und das absolute Ende der Ge-
schichte – so besteht in dieser Beziehung zwischen den slavophilen
und katholischen Schriften kein Widerspruch. Für die beiden ersten
Perioden bleibt zweierlei charakteristisch: erstens der Glaube an das
Gottesreich auf Erden, zu dem die historische Entwicklung ununter-
brochen hinzielt, und zweitens die Behauptung, daß die ganze Wirk-
lichkeit, die gesamte Menschheit und Natur schließlich idealisiert
und mit Gott im Gottmenschentum auf alle Ewigkeit vereinigt wird.
Erst mit der dritten Periode findet eine radikale Aenderung dieses
von Solowjew so lange beibehaltenen Jugendglaubens statt."

"Das einzige Werk Solowjews, in dem sein neuer Standpunkt mit
voller Deutlichkeit ausgesprochen wird, ist seine letzte größere
Schrift »Die drei Gespräche« (1900). […] Sowohl die allgemeine
Stimmung des Werkes, als auch die den Höhepunkt des Ganzen
bildenden eschatologische Zukunftsvision läßt die radikale Aen-
derung des metaphysischen und geschichtsphilosophischen Welt-
bildes Solowjews klar hervortreten."

"[I]m XX. Jahrhundert erwartete er eine mongolische Invasion, im
XXI. die Befreiung Europas und die Bildung einer Union demokrati-
scher Republiken, in die auch Rußland als ein unbedeutendes Glied
eintritt; es wird weder von dem absoluten Wert der Zarenregierung
noch von der besonderen kulturellen und politischen Bedeutung
Rußlands gesprochen. [E]ndlich […] glaubt Solowjew nicht mehr
daran, daß die Geschichte im stetigen Fortschritt zur Verwirklichung
des »totalen Lebens«, des »Gottesreiches auf Erden« führt und mit
dieser Verwirklichung ihren natürlichen Abschluß findet. Er nimmt
jetzt im Gegenteil an, daß die Geschichte in der Bildung eines Welt-
reiches endet, das aber nur ein Zerrbild der Theokratie ist, denn
es wird durch das in der Gestalt des Antichristen verkörperte böse
Prinzip geleitet. Aeußerlich wird dieses Reich den Schein einer ab-
soluten Vollkommenheit haben, und nur wenige Getreue werden
sich dem Antichristen (der sich Christus bewußt entgegenstellt und
das Christentum bekämpft) nicht unterwerfen. Schließlich kommt
es zu einem endgültigen Kampfe zwischen den wenigen Christen
und den Bürgern des gottlosen Staates: die Lage der Christen wird
verzweifelt, aber dann greifen die Juden in den Kampf ein, das
Reich des Bösen wird durch die himmlischen Mächte vernichtet,
worauf endlich die Wiederkunft Christi und der Untergang der
endlichen Welt erfolgt. Man sieht: die Geschichte ist für Solowjew
nicht mehr die allmähliche Ueberwindung des bösen Prinzips, son-
dern eine fortwährende Verstärkung desselben; dem Guten bleiben
schließlich nur die wenigen außerhalb der Geschichte stehenden
christlichen Asketen zugetan, außerdem noch das jüdische Volk,
das eine eigene, aus dem Rahmen der allgemeinen historischen
Entwicklung völlig herausfallenden Geschichte besitzt; und nur
diese Wenigen werden erlöst, während die übrige Welt von Gott
für immer abgetrennt und vernichtet wird."

"[J]etzt ist die Geschichte für Solowjew nicht mehr die allmäh-
liche Wiederherstellung des Gottmenschentums und die Rückkehr
der abgefallenen Sophia zu Gott, sondern ein fortwährender Kampf
des bösen Prinzips mit dem Guten, ein Kampf, der zwar mit dem
Siege des letzteren endet, aber zugleich auch die Vernichtung des
größten Teiles der empirischen Welt zur Folge hat: das Gottesreich
wird jenseits der Geschichte verlegt und diese eigentlich der Herr-
schaft des Bösen preisgegeben."

Dienstag, 17. November 2009

Der kleine Hans


"Der kleine Hans sagt, er wünsche es sich, Kinder zu haben,
und im selben Zug, er wolle nicht, daß es noch mehr davon
gäbe. Er hat den Wunsch, imaginäre Kinder zu haben, und
das um so mehr, als die gesamte Situation sich für ihn durch
seine Identifizierung mit dem mütterlichen Begehren gelöst
hat. Er wird die Kinder seines Traumes, seines Geistes haben.
Kurz und gut, er wird Kinder haben, die in der Art des mütter-
lichen Phallus strukturiert sind, die er schließlich zum Objekt
seines eigenen Begehrens machen wird."

"Doch selbstverständlich wird er damit keine neuen Kinder
haben, und diese Identifizierung mit dem Begehren der
Mutter als imaginäres Begehren bildet nur scheinbar eine
Rückkehr zu dem kleinen Hans, der er einst war, der mit den
kleinen Mädchen dieses einfache Versteckspiel spielte, dessen
Objekt sein Geschlecht war. Jetzt denkt Hans ganz und gar
nicht mehr daran, Verstecken zu spielen, oder genauer, er
möchte ihnen nichts sonst mehr zeigen als seine schöne Statur
als kleinerHans, das heißt als die Gestalt, zu der er von einer
gewissen Seite her selbst letzten Endes geworden ist […], und
zwar so etwas wie ein Fetischobjekt."

"Der kleine Hans richtet sich in einer bestimmten passivierten
Position ein, und von welcher heterosexuellen Rechtmäßigkeit
auch sein Objekt bestimmt sein mag, so können wir doch nicht
annehmen, daß sie die Gesetzmäßigkeit seiner Position erschöpft.
Er schließt da an einen Typ an, der uns in unserer Epoche nicht
fremd erscheinen wird, dem Typ der Generation, die einen be-
stimmten, uns bekannten Stil hat, der Stil der 1945er Jahre,
dieser reizenden jungen Leute, die erwarten, daß die Unter-
nehmungen vom anderen Rand her erfolgen – die, kurz gesagt,
erwarten, daß man ihnen die Hosen auszieht. In diesem Stil
sehe ich die Zukunft dieses reizenden kleinen Hans sich ab-
zeichnen, wie heterosexuell er auch erscheinen mag."

"[…] Der kleine Hans hat seinen Penis nicht zu verlieren, denn
er erwirbt ihn ja auch nicht zu irgendeinem Zeitpunkt. Daß der
kleine Hans mit dem mütterlichen Phallus identifiziert ist, be-
sagt nicht, daß er von seinem Penis im eigentlichen Sinne die
Funktion übernehmen könnte. Es gibt keinerlei Phase einer
Symbolisierung des Penis. Gewissermaßen bleibt der Penis am
Rand, ausgerückt, wie etwas, das immer nur von der Mutter
verabscheut und verurteilt wurde, und das, was sich produziert,
erlaubt ihm die Integration seiner Männlichkeit durch keinen
anderen Mechanismus als durch die Ausbildung der Identifizie-
rung mit dem mütterlichen Phallus, die ebenfalls von einer
ganz anderen Ordnung ist als das Über-Ich, als diese ohne jeden
Zweifel verwirrende, aber auch ausgleichende Funktion, die das
Über-Ich ist. […]"

"Eben in dem Maße, wie der kleine Hans eine bestimmte Idee hat
von seinem Ideal, insofern dies das Ideal der Mutter ist, nämlich
ein Ersatz des Phallus, richtet sich der kleine Hans in der Existenz
ein. Sagen wir, daß Sie, wenn er statt einer jüdischen und in der
Fortschrittsbewegung beheimateten Mutter eine katholische und
fromme Mutter gehabt hätte, sehen könnten, durch welchen
Mechanismus bei entsprechender Gelegenheit der kleine Hans
sachte zum Priestertum, wenn nicht gar zur Heiligkeit, geleitet
worden wäre."

"[…] Der kleine Hans wird nichts anderes sein als ein Ritter, ein
Ritter mehr oder weniger unter dem Regime der Sozialversiche-
rungen, aber immerhin ein Ritter – und er wird keinen Vater
haben. Und ich glaube nicht, daß etwas Neues in der Erfahrung
der Existenz ihm diesen jemals geben wird."

"Überlassen wir diesen kleinen Hans seinem Schicksal. Doch be-
vor wir ihn verlassen, möchte ich Ihnen noch signalisieren, daß
ich, als ich seinetwegen auf eine bestimmte Entwicklung in den
Verhältnissen zwischen den Geschlechtern anspielte und mich
auf die Generation von 1945 bezog, dies mit Sicherheit nicht ge-
tan habe, um mich in eine exzessive Aktualität zu stürzen. Das
Anliegen, zu schildern und zu bestimmen, was die aktuelle Gene-
ration sein kann, und dem einen direkten und symbolischen Aus-
druck zu verleihen, überlasse ich anderen, sagen wir, Françoise
Sagan. Ich führe diesen Namen nicht zufällig an, um des bloßen
Vergnügens willen, auf Aktualität zu machen, sondern weil ich
Ihnen als Ferienlektüre, in der Nummer der Critique von August-
September 1956, zu der Studie raten möchte, die Alexandre
Kojève unter dem Titel Le Dernier Monde nouveau über die
beiden Bücher, Bonjour tristesse und Un certain sourire, der
eben von mir genannten Erfolgsautorin verfaßt hat. Sie werden
sehen können, was ein nüchterner Philosoph, gewohnt, sich auf
dem Niveau von Hegel sowie der höchsten Politik zu bewegen,
aus scheinbar so frivolen Werken herauszuholen vermag."

"Dies wird für Sie unfehlbar lehrreich sein. Und Sie werden
auch, wie man zu sagen pflegt, keinen Schaden daran nehmen,
Sie werden nichts riskieren. Der Psychoanalytiker rekrutiert
sich nicht aus dem Kreise derer, die sich den Schwankungen
der Mode in Sachen Psychosexualität voll und ganz hingeben.
Sie sind, wenn ich so sagen kann, zu gut ausgerichtet dafür,
und das sogar, wenn Sie in dieser Sache alles andere als ein
Musterschüler sind. Diese Lektüre kann für Sie den Vorteil
haben, daß Sie den Eintritt in ein Bad der Aktualität erhalten,
mit der Wirkung, daß Ihr Blick auf das, was Sie tun, und auf
das, was Sie von Ihren Patienten zu vernehmen mitunter be-
reit sein müssen, aktiviert wird. Dies wird Ihnen außerdem
zeigen, daß wir tiefgreifenden Veränderungen der Verhältnisse
zwischen Mann und Frau Rechnung tragen müssen, die zustande
kommen konnten im Verlauf einer Periode, die nicht länger ist
als die, welche uns von der Zeit Freuds trennt, in der, wie man
sagt, all das, was zu unserer Geschichte werden sollte, im Ent-
stehen begriffen war."