Samstag, 6. Dezember 2008

Isola degli angeli


"Dreizehn Jahre streunte ich in einem wunderlichen Freige-
hege,
verbrütete die zweitbesten Zeiten meines Lebens in
einem erstaunlichen Torso, einer spürbar unvollständigen

Stadt. Obgleich ein Unbehauster, war ich zu Hause
nur zu
Haus – nur ein paar Ecken weit reichte die Sympathie,
das
reichte.
[...] Ich war nach Berlin gegangen, weil ich London
und New York City näher sein wollte – und nicht
Leipzig,
Brest oder Wroclaw. Was bedeuten Pomoschtsch,
Bolschoi
und Narodni? Ich verstehe weder Polnisch oder
Russisch noch
Serbisch oder Sorbisch. Ich war hierhergekommen,
weil ich
den Westen in zugespitzter, gleichwohl
auch teilannullierter
Form erleben wollte."

So steht es in
Zeuge der Einheit, der ersten von "sieben neuen
Lektionen", die
Der gelernte Berliner Bernd Cailloux seit dem
Mauerfall durchgenommen hat. Sie sind kürzlich bei Suhrkamp
erschienen. Wer Anfang Dezember
der Präsentation des West-
Berlin-Hefts der Zeitschrift für Ideengeschichte beiwohnte,
wird es bedauert haben, dass nicht Cailloux, sondern Schlögel
auf dem Podium saß. Denn
außer Ressentiment hatte der Ost-
europaexperte zum Gegenstand nichts beizutragen: Er habe
nichts sehnlicher erwartet, als die Abwicklung des Zustandes
"West-Berlin" und im übrigen bereits in den 70er Jahren der
Stadt den Rücken gekehrt. Ganz weit vorne habe er damit
gelegen; schließlich sei der Dichter Hans Magnus Enzensberger
seinem Beispiel gefolgt und habe Friedenau 1979 richtung
München verlassen...

Folglich waren die in der intellektuell verödeten Stadt
Zurück-
gebliebenen
von allen guten Geistern verlassen. Schon bald
soll diese Lücke jedoch von besseren Geistern geschlossen
worden sein. Man erzählt sich nämlich, dass sich eine kleine
Schar Engel Ende der 70er Jahre in den Neubau der Staats-
bibliothek einquartiert habe. Dort hätten sie sowohl den
Zurückgebliebenen als auch den Zugezogenen bei der Lektüre
beigestanden. Anders als die brillanten Geister, die der Stadt
den Rücken gekehrt hatten, sollen sie unaufdringlich gewesen
sein, so gut wie unsichtbar.



Theologen vermuten, dass diese Engel strafversetzt wurden,
weil man sie des Pelagianismus verdächtigte. Pelagius vertrat
bekanntlich den Standpunkt, dass die Gnade unverlierbar sei.
Doch wozu Engel, wenn der Mensch die Gnade nicht verlieren
kann, weil er wesentlich sündlos ist. Einem Gott, der davon
überzeugt ist, dass die Schöpfung zugrunde ginge, wenn sie
nicht unablässig gewartet werden würde, müssen Mitarbeiter
suspekt sein, die, statt Führungsqualitäten zu beweisen und
die Menschen zu lenken, sich darauf beschränken, ihnen
Beistand zu leisten.


Weder führen, noch lenken, nicht einmal schützen, sondern
einfach alles so irreparabel sein lassen, wie es ist. Nichts tun
außer den Menschen buchstäblich zu assistieren, bei ihnen zu
stehen, egal was sie tun. In der himmlischen Hierarchie steht
dieser Engels-Dienst Gott allein zu. In West-Berlin wurde er
versuchsweise am Menschen ausgeübt. Das Ergebnis war ein
neuer Künstlertypus: der geniale Dilletant (Dilettantismus
plus Engel: [v.l.n.r.] Otto Sander als Engel Cassiel, Blixa Bar-

geld und Nick Cave).