Donnerstag, 2. Oktober 2008

Zitierfreude


Januar 94 feierte Heiner Müller seinen 65. Geburtstag mit einem
Pasoliniabend im Berliner Ensemble. Auf dem Programm standen
La Ricotta, der Beitrag des italienischen Regisseurs zu RoGoPaG,
einer Kurzfilmanthologie von 1963, und die Lesung einer Auswahl
aus seinen Gedichten.
Laura Betti, die in Pasolinis Film eine der
"Diven" spielt, war eingeflogen worden, um sie hingebungsvoll zu
rezitieren. Auf seine unnachahmliche Art
, in einer Mischung aus
Nuscheln und Bellen
, trug Müller deren deutsche Übersetzung vor.
Ob auch Io sono una forza del Passato / Solo nella tradizione è il
mio
amore... ("Ich bin eine Kraft der Vergangenheit / Einzig der
Überlieferung gilt meine Liebe") dabei war, also jenes Gedicht,
das Orson Welles in der Rolle eines Regisseurs scheinbar vorträgt
(gesprochen wird der Text von Giorgio Bassani), habe ich vergessen.
Ehrlich gesagt, konnte ich mich gar nicht mehr daran erinnern, daß
Gedichte von Pasolini vorgetragen wurden. Es war der wunderliche
Kurzfilm, der mir im Gedächtnis blieb.


RoGoPaG stand für die vier Regessieure, die an dem Episodenfilm
beteiligt waren: Rossellini, Godard, Pasolini und Gregoretti. Sein
alternativer Titel lautet: Laviamoci il cervello, "Waschen wir uns
das Gehirn!" Bevor mit Rossellinis Illibatezza (Jungfräulichkeit,
Keuschheit, Unversehrtheit), einem Capriccio über Stewardessen,
Fernreisen und Super8
die erste Episode beginnt, erklärt ein Text:
"Vier Erzählungen von vier Autoren, die sich darauf beschränken,
von den heiteren Vorboten des Weltuntergangs zu berichten."

Die Gedichte von "Mamma Roma", Gedicht vom 13. Mai 1962:
Il popolo più analfabeta / e la borghesia più ignorante del mondo.
10. Juni 1962:
Io sono una forza del Passato.
Solo nella tradizione è il mio amore.
Vengo dai ruderi, dalle Chiese,
dalle pale d’altare, dai borghi
dimenticati sugli Appennini o le Prealpi,
dove sono vissuti i fratelli.
Giro per la Tuscolana come un pazzo,
per l’Appia come un cane senza padrone.
O guardo i crepuscoli, le mattine
su Roma, sulla Ciociaria, sul mondo,
come i primi atti della Dopostoria,
cui io assisto, per privilegio d’anagrafe,
dall’orlo estremo di qualche età
sepolta. Mostruoso è chi è nato
dalle viscere di una donna morta.
E io, feto adulto, mi aggiro
più moderno d'ogni moderno
a cercare i fratelli che non sono più.