Donnerstag, 18. September 2008

Der Schacht von Babel


Als die Einstürzenden Neubauten 1996 ihren Schacht von Babel
gruben, mit edlen Hölzern verschalten und selbst den Strom für
das Licht drin verlegten, war es genau dreißig Jahre her, dass
Giorgio Agamben seinen gegraben hatte: in Form eines Artikels
für die Zeitschrift Tempo Presente. In dieser Zeitschrift, die wie
Der Monat in Deutschland, Preuves in Frankreich oder Encounter
in Großbritannien vom 1950 im Titania-Palast in Berlin-Steglitz
gegründeten Kongress für kulturelle Freiheit mit CIA-Geldern
subventioniert wurde, waren 1966 von dem, wie es in der Rubrik
"Anmerkungen zu den Mitarbeitern dieses Hefts" heißt, "jungen
Forscher auf dem Gebiet der französischen Literatur", der schon
Artikel in Il Mondo veröffentlicht habe und hoffe, in Kürze seine
"Baudelaire-Studie" abschließen zu können, drei in inhaltlichem
Zusammenhang stehende Beiträge erschienen: "Der 121. Tag von
Sodom und Gomorrha", "Fabel und Fatum" und "Der Schacht von
Babel".

Agambens Werk hätte sich selbstredend auch ohne diese suspekte
Anschubfinanzierung irgendwie Bahn gebrochen, dem
Übersetzer
und
Exegeten beantwortet die so entstandene Artikelserie jedoch
einige Fragen, die sich im Zusammenhang mit dem ersten Buch des
italienischen Künstler-Philosophen stellen. Zunächst drängt sich die
Frage auf, wie der Titel des 1970 erschienenen Buches angemessen
zu übersetzen wäre: L'uomo senza contenuto. Soll man ihn Wort für
Wort übersetzen? Der Mensch ohne Inhalt? Die Frage der Richtigkeit
oder Angemessenheit einer Übersetzung, die in der Regel lediglich
eine Geschmacksfrage ist, kann in diesem Fall unmissverständlich
beantwortet werden. In Il pozzo di Babele (Der Schacht von Babel)
findet sich nämlich eine Stelle, die den entscheidenden Hinweis gibt:


"Was mit [Artaud] untergeht, ist der Feder-Mensch (l'uomo-penna), der
vierte Mensch, von dem Benn in seinem Essay über Nietzsche spricht,
der Mensch, der seinen Inhalt verloren hat (l'uomo che ha perduto il
suo contenuto
) und nur noch den Form- und Ausdrucksprinzipien lebt."

In Benns Radio-Essay Nietzsche – nach fünfzig Jahren, der am 25. Aug.
1950 vom Nordwestdeutschen Rundfunk gesendet wurde,
steht die von
Agamben übersetzte Passage in folgendem Kontext:

"Nietzsche, sehen wir heute, inaugurierte den »vierten Menschen«,
von dem man jetzt so viel spricht, den Menschen mit dem »Verlust
der Mitte« [...]. Der Mensch ohne moralischen und philosophischen
Inhalt, der den Form- und Ausdrucksprinzipien lebt. Es ist ein Irrtum,
anzunehmen, der Mensch habe noch einen Inhalt oder müsse einen
haben. Der Mensch hat Nahrungssorgen, Familiensorgen, Fortkommen-
sorgen, Ehrgeiz, Neurosen, aber das ist kein Inhalt im metaphysischen
Sinne mehr. [...]
Der beschwörende Mensch ist nicht mehr da. Es ist
überhaupt kein Mensch mehr da, nur noch seine Symptome."

An dieser Stelle entfaltet Benn allerdings nur eine Diagnose, die er
kurz zuvor auf die konzisere Formel gebracht hatte, Nietzsche sei
"»der vierte Mensch«, von dem man jetzt soviel spricht, der Mensch
ohne Inhalt, der die Grundlagen der Ausdruckswelt schuf." Dieser, aus
philologischer Sicht sehr schöne Befund ("der Mensch ohne Inhalt"),
wirft nun aber grundsätzlichere Fragen auf. Ist es überhaupt statthaft,
den Titel von Agambens erstem Buch, mit dem Hinweis, es handle
sich um die Übersetzung eines Bennschen Syntagmas, nicht eigentlich
zu übersetzen, sondern rückzuübertragen? Ist das nicht Verrat an der
Aufgabe des Übersetzers? Hat sich nicht die Entscheidung, Agambens
Prägung "nuda vita" - trotz der nicht zu
übersehenden Bezugnahme auf
Walter Benjamins "bloßes Leben" – mit "nacktes Leben" zu übersetzen,
als richtig erwiesen? Doch wäre es ein Gewinn, wenn man
Il pozzo di
Babele –
anstatt ihn in Kafkas Schacht von Babel rückzuübertragen –
mit Babylons
Brunnen oder Die babylonische Höhle übersetzen würde?