Dienstag, 15. Juli 2008

Ich habe etwas vergessen


Unter dem Vorwand, etwas vergessen zu haben, kehrt Georgia
Moll als Dolmetscherin Francesca zu Fritz Lang als Fritz Lang in
den Vorführraum zurück. Sie übersetzt aus dem Deutschen,
Französischen und Englischen ins Englische und Französische
und spricht soviel Deutsch, dass sie sich bei Mr Lang in seiner
sogenannten Muttersprache entschuldigen kann. Offensichtlich
ist sie mit Hölderlin vertraut. Zumindest legt das die kurze
Episode nahe, die sich nach ihrer überstürzten Rückkehr in den
Vorführraum abspielt.
Völlig unvermittelt beginnt Lang die letzte
Strophe der zweiten Fassung von Hölderlins Gedicht Dichterberuf
(vgl. Gottes Fehl hilft vom 7. Juli 2008) aufzusagen. Francesca,
die mittlerweile neben Fritz auf einem Sessel Platz genommen
hat, übersetzt:

FRANCESCA. Mais l'homme, quand il le faut, peut demeurer sans
peur seul devant Dieu. Sa candeur le protège et il n'a besoin ni
d'armes ni de ruses, jusqu'à l'heure où l'absence de Dieu vient à
son aide.
FRITZ. Très bien.
FRANCESCA. C'est de Hölderlin, n'est-ce pas Mr Lang?


FRITZ. Oui, La vocation du poète. Le dernier vers est très obscure.
Hölderlin avait écrit d'abord: "So lange der Gott nicht da ist".
FRANCESCA. Tant que Dieu ne fait pas défaut.


FRITZ. Oui. Et ensuite: "So lange der Gott uns nahe ist".
FRANCESCA. Tant que Dieu nous demeure proche.


FRITZ. Vous voyez, la rédaction du dernier vers contradit les deux
autres. Ce n'est plus la présence de Dieu, mais l'absence de Dieu,
qui rassure l'homme. C'est très étrange mais vrai... Comment est-ce
qu'on dit "étrange" en italien?
FRANCESCA. Strano.

Mag es auch befremden, wahr ist, dass den Menschen nicht mehr
die Anwesenheit der Götter, sondern ihre Abwesenheit beruhigt
(
rassurer), oder, um es zu paraphrasieren, ihm Geborgenheit gibt.
Unwahr, oder zumindest philologisch nicht korrekt sind hingegen
Langs Ausführungen zu den unterschiedlichen Fassungen des
Hölderlingedichts. Zwar liegt die letzte Zeile in drei Fassungen vor,
diese stimmen aber nicht mit den von Lang zitierten überein. In
einer Vorstufe der 1. Fassung lautete sie: "Furchtbar in ihnen der
Gott; er muß es." Warum Lang sagt, der Dichter hätte zunächst
geschrieben: "So lange der Gott nicht da ist", ist nicht nur deshalb
seltsam, weil ein solcher Satz bei Hölderlin nirgends zu finden ist,
sondern auch, weil auf diese Weise der letzten Fassung ihre Pointe
genommen wird. Erst sie sollte nämlich in einer brüsken Wendung
behaupten, dass "Gottes Fehl hilft".

Bezeichnenderweise übersetzt Francesca Langs Worte völlig "falsch".
Denn "
Tant que Dieu ne fait pas défaut" heißt, "so lange Gott nicht
fehlt", also das genaue Gegenteil von dem, was Lang sagt.
(Wenn
Francesca kurz darauf Langs "
So lange der Gott uns nahe ist" mit "Tant
que Dieu nous demeure proche
" übersetzt, berichtigt sie ihn übrigens
ein weiteres Mal. Sie übersetzt nämlich nicht Lang, sondern Hölderlins
Text.
Dort heißt es in der Tat: "... so lange der Gott uns nah bleibt".)
Doch halten wir ein, um uns kurz zu besinnen. Natürlich dolmetscht
Francesca nicht die Worte Langs, sondern Georgia (sic) Moll, stellt
eine vielsprachige "Chef-Assistentin" dar. Sie übersetzt nicht, sondern
spricht, was im Drehbuch steht. Und in ihrem Fall akzeptieren wir
das auch umstandslos. Nicht so bei Lang. Da er kein Schauspieler sei,
könne er nur sich selbst spielen. Doch wie die Textanalyse gezeigt
hat, ist auch er nicht eins mit seiner Rolle, auch er spricht lediglich,
was im Drehbuch steht.

Dem zufolge stellt Lang weniger einen Regisseur im Allgemeinen dar.
Vielmehr soll er das cinematographische Vermächtnis des Abendlands
seit Homer personifizieren, welches offensichtlich deutsch ist, d.h.
gräkophil, was man am besten durch Hölderlinzitate bezeugt. Wenn
man Langs Filme Revue passieren lässt, kommt man ziemlich schnell
zu der Überzeugung, dass er sich also keinesfalls selbst spielen kann.
In der etwas erratischen Gedichtinterpretationssequenz gibt es sogar
recht eindeutige Indizien dafür, dass Lang hier eine konkrete Figur der
französischen Kultur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielt
:
Maurice Blanchot, der es seinerseits verstand, so gut wie
unsichtbar
zu bleiben. Zumindest legt das die Lektüre des Hölderlin-Itinerars
nahe, das
als letzter von vier Anhängen Blanchots 1955 erschienenes
Buch L'espace littéraire beschließt:

"A la fin du poème intitulé Vocation du poète, il avait d'abord écrit:

Mais, quand il le faut, l'homme reste sans peur
Devant Dieu, la simplicité le protège,
Et il n'a besoin ni d'armes, ni de ruse,
Aussi longtemps que le Dieu ne lui fait pas défaut.

Mais, plus tard, à la place de ce dernier vers, il écrivit: «Jusqu'à
ce que le défaut de Dieu l'aide.» Ce remaniement est étrange. Que
signifie-t-il?"